Auslaufmodelle aller Art - Wie halten wir es mit der immerwährenden Neutralität?

Franz Cede, renommierter Völkerrechtsexperte, erblickt in einem Gastkommentar1 eine “internationale Völkerrechtsordnung und Sicherheitsarchitektur”, die man “mühsam aufgebaut” habe und die (durch den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine) nun “in ihren Grundfesten erschüttert” sei.

Kein Zweifel: dieser Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stellt eine schwere Verletzung des Völkerrechts und insbesondere des Gewaltverbots dar. Er ist zu verurteilen, gleich welche Vorgeschichte ihm zugrunde liegt. Aber welche Grundfesten erschüttert er, bedenkt man die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte?

Wer noch staunen kann, hat ein schlechtes Gedächtnis

- Alfred Alzheimer

Von welcher Ordnung und Architektur ist hier die Rede und genügen sie wirklich, im Großen und Ganzen, Grundbedürfnissen wie Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Umwelt und sonstigen fundamentalen menschlichen Erfordernissen? UNO und andere internationale Organisationen, einschließlich regionaler wie die Europäische Union und die OSZE, sind in der Tat Errungenschaften, auch wenn sie bei weitem nicht das brachten und bringen, was sie könnten, nicht zuletzt, weil sie – vor allem von den maßgeblichen Großstaaten - immer mehr ausgehungert, teil-privatisiert, instrumentalisiert und ignoriert wurden und werden – und zwar keineswegs nur von einer Seite (Russland).

Meint Cede die vielen Abkommen zum Schutz der genannten Güter (einschließlich der “großen” amerikanisch-sowjetischen/russischen Verträge zu Rüstungskontrolle und/oder Abrüstung)? Hier war in den letzten Jahrzehnten, insbesondere seit der “Zeitenwende” 1989/1990 (Ende des fast 45 Jahre andauernden Kalten Krieges), eine neue frivole Leichtigkeit im Umgang mit Völkerrecht zu beobachten, das mühsam aufgebaute “Nachkriegssystem” ging in Wahrheit bereits 1989/90 mit dem vermeintlichen “Sieg” des Westen zu Ende. Diese Nonchalance betrieb vorwiegend die genannte, von den USA geführte “Staatengemeinschaft”, alias “transatlantische Gemeinschaft”, also USA-NATO-EU. Aufgekündigt, nicht verlängert wurden die meisten Rüstungsabkommen übrigens von US-amerikanischer, nicht von russischer Seite. Und eine Reihe brutaler, verlustreicher, großteils völkerrechtswidriger, letztlich verlorener Kriege, vielfach unter dem Vorwand der Verteidigung von Menschen(rechten), gehen auf das Konto dieser Gemeinschaft, die sich unter US-Hegemonie eine Zeitlang zum Weltpolizisten aufschwang. Während vor diesem Überfall Ordnung und Architektur angeblich doch einigermaßen wohltuende Sicherheiten gewährleisteten, erfolgte insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges ein beispielloses Aufrüsten und Waffenexportieren, wobei die USA und die NATO bei weitem führend waren und sind2, während gleichzeitig Hunger, Kriege, Not und Ungleichheit fast explodierten. Es schien, dass in den letzten 30 plus-Jahren Völkerrecht, UNO und andere internationale Organisationen “Auslaufmodelle” wurden.

“Schock” – how come?

Woher also diese “Schockstarre”? Liegt es daran, dass nun auch andere (wie zuvor der Westen in Restjugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen) unter falschen, zweifelhaften Vorwänden unter Verletzung des Völkerrechts und insbesondere des Gewaltverbots agieren und andere Länder überfallen? Was ist an der “gegenwärtigen Lage” so grundsätzlich anders (als zuvor), dass eine “radikale Neubesinnung” der “westlichen Demokratien in Bezug auf ihr Verhältnis zu Russland unter Putin” erforderlich geworden sein soll? Wurde Russland (und damit auch seine Ansichten und Interessen) zuvor tatsächlich so respektiert, wie es angemesse, zumindest aber vernünftig gewesen wäre, schon angesichts seines (auch potentiell destruktiven) Potentials? Die von Cede erwähnte Partnerschaft erfolgte nach allem, was man wissen kann, jedenfalls nicht auf Augenhöhe oder in engagierter Form, und wiederholte geringschätzige Qualifizierungen Russlands durch namhafte Repräsentanten der “westlichen Wertegemeinschaft” sind bekannt. Wurde je ernsthaft versucht, mit Russland und auf Augenhöhe über eine von diesem wiederholt (schon unter Gorbatschov und zuletzt 2021) vorgeschlagene neue gesamt-europäische Sicherheitsarchitektur zu verhandeln?

Wie geborgen, sicher konnte man denn wirklich bis zu diesem Krieg wähnen? War nicht “Putins Russland” schon längst (wieder) von der “Gemeinschaft” als angeblich gemein-gefährlich diagnostiziert worden, spätestens seit 20143, und die westlich-militärischen Reihen daher bis dicht an Russland europäische Grenzen vorangetrieben worden? Hatte es nicht schon bisher reichlich Sanktionen gegen Russland und Austausch von Unfreundlichkeiten gegeben? Hatte die NATO, in ihrem Bestreben, “out of area”, also weltweit, sogenannte Krisen zu managen, nicht schon spätestens seit 9/11, also den Terroranschlägen in New York City und Washington DC, beständig Alarm geschlagen? War der Pegel der gefühlten Schutzlosigkeit vor Krisen und Gefahren aller Art nicht bereits seit Längerem angestiegen, zu deren Abwendung laufend “Kriege” ausgerufen wurden (“Krieg” gegen Terrorismus, cyber crime, Corona, Klimawandel etc.), während die real geführten Kriege als “Operationen” firmierten? Waren nicht schon längst Unbehagen, Ängste und Misstrauen gegenüber Politik, Medien und Experten, auch oder gerade in den westlichen, wohlhabenden Demokratien erheblich angewachsen, stolperten wir nicht scheint’s von Krise zu Krise und machte sich eine Art Weltuntergangsstimmung breit? Wo bleibt da die Idylle, die durch diesen “Schock” zerstört worden sein soll? Aus welchem “Paradies” wurden wir folglich vertrieben, wie Außenminister Schallenberg der Washington Post gegenüber beklagte?

Alles fließt, wir auch….

“Gleich, mit jedem Regengusse
Ändert sich dein holdes Tal,
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweitenmal”

- Johann Wolfgang von Goethe

Besinnung ist immer gut, Situationen bleiben nie lange gleich, alles “fließt”, wie schon die alten Griechen erkannten. Es gilt, alles Mögliche im Auge zu behalten und Optionen zu überlegen und erforderlichenfalls zu ergreifen, so ist das politische Geschäft, auch das außenpolitische. Dabei sollte man eine Vorstellung davon haben, was die eigenen Interessen sind. Solche sind nicht einfach als “egoisitisch” abzukanzeln und sie können kaum je im Alleingang verfolgt und erreicht werden. Der Mensch ist nun einmal ein soziales Wesen, auch Staaten sind es (außer vielleicht Nordkorea), und dazu noch ein “politisches”, also nach Aristoteles mit Vernunft und Sprache ausgestattetes. Österreichs Außenpolitik war nie statisch und starr, die Immerwährende Neutralität wurde immer neu interpretiert, angepasst. Lagebeurteilungen sind an der Tagesordnung, Pläne werden regelmäßig erstellt. Neutralität fungierte als Anker, der dem Staatsschiff aber reichlich Beweglichkeit ermöglichte. Beispielsweise den Beitritt zur UNO und später zur Europäischen Gemeinschaft und vieles mehr. Österreich war auf der internationalen Szene präsent, manchmal mehr, manchmal weniger. Dafür lassen sich unzählige Beispiele anführen, die dem Autor des “Auslaufmodells” wie mir sehr gut bekannt sind. Natürlich ist Österreich keine Weltmacht, unsere Möglichkeiten sind begrenzt und das war jenen, die an der Außenpolitik mitwirkten, immer bewusst.

Logik von Neutralitätspolitik

Bewusst war auch immer, dass es keine absolute Sicherheit gibt, dass die verfassungs- und völkerrechtlich festgehaltene Immerwährende Neutralität per se einen solchen Schutz nicht bieten kann. Daher herrschte immer, auch und besonders unter Völkerrechtlern, die Ansicht vor, es gelte eine Politik zu betreiben, die Kriege, in die das Land hineingezogen werden könnte, möglichst eindämmen, verhindern helfen könnte: also eine konstruktive aktive Außenpolitik, deren Ziele je nach Lage waren (und sind): Hilfe bei Konfliktbearbeitung (anderer), Streitbeilegung, freier Gedankenaustausch, Vermittlung, Entspannung, Förderung der Entwicklung von Völkerrecht und Menschenrechten, Ermöglichung von Begegnungen und Verhandlungen, humanitäre Hilfen, usw.. Vermittlung ist natürlich nicht Neutralen vorbehalten, der Status kann aber solche Bemühungen erleichtern, wie die Geschichte zeigt. Natürlich gehört zu glaubhafter Immerwährender Neutralität auch eine glaubhafte, zumutbare Landesverteidigung, und zwar neben einer militärischen auch eine geistige, politische und wirtschaftliche.

Kriegsmüdigkeit in den Genen?

Es stimmt natürlich, leider: ein “sachlicher Diskurs” über Außen- und Sicherheitspolitik Österreichs täte not, statt Gesprächsverweigerung und eines bloßen Austausches von (buchstäblich) Schlag-Worten, Unterstellungen und Beleidigungen, wie sie zu beobachten sind. Und es stimmt: politische Bildung, wozu solider Wissensstand und Befähigung zu eigenständigem Denken gehören würden, ist in Bildung, Medien und Politik ein Stiefkind. Dessen ungeachtet ist der “Durchschnittsbürger” nicht gut beraten, sich ausschließlich auf Experten zu verlassen und seinen Hausverstand auszuschalten. Dieser mag ihm sagen, dass Österreich, wie Cede sagt, die “Friedensdividende” unserer Neutralitätspolitik bisher “in aller Ruhe lukrieren konnte” und dass das kein schlechtes Ergebnis ist. Schon in der Schule lernte man hierzulande, dass “Heiraten”, also dynastisch-diplomatisches Ränkeschmieden, sinnvoller und erfolgversprechender (sicher auch billiger) war als Kriege zu führen. Geschichtsbewussteren Zeitgenossen mag auch bewusst (oder in den Genen überliefert) sein, dass Österreich seit mehr als 300 Jahren4 keinen Krieg mehr gewonnen hat und mindestens zweimal sich als kleiner Militär-Bündnis-Bruder an der Seite eines mächtigeren Nachbarn in Katastrophen führen ließ. Die Vorstellung, dass man als Teil eines Militärbündnisses geborgen ist, mag daher auf Skepsis stoßen. Heiß umfehdet, wild umstritten….sei Österreich gemäß Text der Nationalhymne, diese mulmige Überlieferung steckt vielleicht hinter der Kriegsmüdigkeit, die die Immerwährende Neutralität zum Ausdruck bringt. Dabei erscheint es mir gleich, ob das nun schon eine “Identität” ist, wie manche glauben. Unter den vielen Identitäten, die alle Menschen haben, auch wenn sie es nicht wissen, mag es eine sein.

Diskutieren statt Diffamieren

Nun ist es schon seit Längerem üblich, die Immerwährende Neutralität Österreichs als irrelevant, trügerisch, überholt, dumm, unsolidarisch, eigenbrötlerisch usw. zu bezeichnen5. Regelmäßig wird aus scheinbar gegebenem Anlass (z.B. Ende des Kalten Krieges, Jugoslawien-Kriege, EU-Beitritt, nunmehr Ukraine-Krieg) ihre endgültige Abschaffung und/oder der Beitritt zur NATO gefordert. Dabei wird oft auch das “Ausland” als Zeuge angeführt, also jene - sehr vereinzelten - Politiker und Journalisten, die von jenseits der Grenzen sich überhaupt für Österreich interessieren und das wiederholen, was sie von manchen Österreichern zu hören bekommen.

“Gegen wen”, solle man denn jetzt noch neutral sein, lautete eine beliebte Frage der Neutralitäts-MinimiererInnen nach dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 90-er Jahre, als ob Neutralität je gegen jemanden gerichtet gewesen wäre. “Gegen wen” sollen wir nun Krieg führen, hätte die Gegenfrage lauten müssen. “Zwischen wem und wem” solle man noch neutral sein, wurde listig ergänzt, als ob Streitigkeiten und Konfrontationen nun angesichts des akademisch proklamierten “Ende der Geschichte” immerwährend ausgeschlossen wären. Schließlich, als es doch zu Kriegen kam (ex-Jugoslawien), hieß es, zwischen “Feuer und Feuerwehr”, als Gut und Böse, könne man nicht neutral sein. Darf man also nur bei Kriegen, die keiner begonnen hat (Angriff ist natürlich böse), neutral sein, und gibt es einen Krieg, den keiner begonnen hat? Aktuell wird Neutralität fordernden BefürworterInnen von Waffenstillstand und Friedensverhandlungen hierzulande vorgeworfen, Russland und/oder Putin zu lieben...

Von den höchsten aller Stufen
hör ich’s immer Nebbich rufen!

Kassenstürze

Angesichts moralisierender Pauschalurteile ist vielleicht wirklich ein “Kassensturz”, wie Cede vorschlägt, eine gute Idee. Was zählt zu den Aktiva der Immerwährenden Neutralität, was schlägt negativ zu Buche? Positiv sind sicher die schon erwähnten Zugewinne an Ansehen, Spielraum und damit mitunter Einfluss, etwa als Vermittler, facilitator, im Kontext der langwierigen Ost-West-Entspannungspolitik (Stichwort KSZE) und weiters in Konfliktregionen und -situationen außerhalb Europas und in der multilateralen globalen Diplomatie (Stichwort Blockfreie Staaten). Mit berechenbarer, glaubwürdiger und engagierter Neutralitätspolitik konnte Österreich zu positiven Entwicklungen in Europa und darüber hinaus beitragen. “Stillesitzen” und Maulhalten war die österreichische Neutralitätspolitik. Dass es Österreich möglich war, im Verlauf weniger Jahrzehnte Abertausende politisch und “rassisch” Verfolgte aus dem sowjetischen Imperium, aber auch aus anderen Diktaturen hinaus, zu bringen, hängt sicher mit dem neutalen Status zusammen. Natürlich sollte man dessen Potential weder übetreiben noch überschätzen, wie es bisweilen in patriotischen Sonntagsreden geschah. Negativ, vor allem aus wirtschaftlicher Perspektive, sahen viele den Umstand, dass Österreich wegen der sogenannten “finalité politique”, also dem Ziel einer Staatenunion, lange Zeit nicht voll bei der Entwicklung des Projekts eines Gemeinsamen Marktes (spätere Europäische Union) mitwirken bzw. dieser supranationalen Organisation nicht beitreten konnte. Und natürlich tauchte, nach dem Motto “Wer nicht für mich ist, ist gegen mich”, vor allem bei jeweils aktuellen Konfliktpartnern, immer wieder der Verdacht auf, Österreich profitiere unverschämt von den Anstrengungen anderer und wisse nicht Recht von Unrecht zu unterscheiden. Solches muß man als Neutraler erwarten und hinnehmen, ist es doch immerwährend üblich. Gewiss gab es noch andere Kritikpunkte, beispielsweise, berrechtigterweise, dass Österreich es mit der gebotenen Landesverteidigung nicht ernst genug meine.

Ein Kassensturz müsste auch bezüglich der Zukunft der Immerwährenden Neutralität erfolgen. Was brächte ihre Abschaffung? Welche Alternativen betreffend Sicherheit und Verteidigung gibt es? Wenn Cede, richtigerweise, bedauert, es gebe keinen “sachlichen Diskurs”, so möchte auch ich hier zu einem solchen beisteuern. Und daher können Zweifel und Widerspruch nicht ausbleiben.
Zu behaupten, dass Österreich “völkerrechtlich nicht zur Beibehaltung der Neutralität verpflichtet” ist, hätte noch vor Jahren KandidatInnen für das Außenamt disqualifiziert. Aber natürlich: Völkerrecht ist flexibel, wie seine InterpretInnen (einschließlich meiner selbst). Es war “Stand der (Rechts)wissenschaft”, mit der - widerspruchslosen - Notifikation unseres Status an alle anderen Staaten sei – damals sicher beabsichtigt - eine quasi-vertragliche Verpflichtung (beider Seiten) entstanden, und: Pacta sunt servanda, lautet ein Grundprinzip des Völkerrechts. Freilich: alles kann sich ändern, nichts ist ewig. Vernünftig aber ist es, Änderungen wohl überlegt anzugehen.

Dass die Immerwährende Neutralität, nicht zuletzt mithilfe von VölkerrechtlerInnen im Zuge des EU-Integration österreichischerseits zum Skellett einer (rein militärischen) “Rest-Neutralität” filletiert wurde, ohne dass zumindest der Anschein oder Versuch einer seriösen Information des “Souverän”, des österreichische Volkes, und/oder einer breiten öffentlichen Diskussion über so grundsätzliche Weichenstellungen unternommen wurde, bleibt in meinen Augen ein listiger und zutiefst unseriöser Vorgang6. Dass der des juristisch-diplomatischen Neusprechs unkundige und außenpolitisch unbedarfte “Durchschnittsbürger” das nicht mitbekommen hat, kann wohl kaum diesem angekreidet werden. Vielmehr musste dem politischen und Experten-Milieu bewusst sein, dass diese Organisation auf den (mit Neutralität grundsätzlich unvereinbaren) schrittweisen Verzicht auf nationale Selbstbestimmung ausgerichtet war und ist. Dass ein solches Ziel begrüßenswert ist, solange die EU als Wirtschafts- und Friedensprojekt agiert, steht auf einem anderen Blatt7.

Surprise, surprise

Neutralität (und Staatsvertrag) waren einige Jahrzehnte lang viel zitierte und gepredigte “Grundfesten” österreichischer Außenpolitik, ja für manche sogar der staatlichen Existenz des Landes. Nun aber wird der/die “DurchschnittsbürgerIn”, immerhin (vielleicht irrational, instinktiv, aber immerhin) laut Umfragen hart gesottene AnhängerInen der Immerwährenden Neutralität, in den Grundfesten durch die herbe Mitteilung erschüttert: wir seien ja eigentlich schon längst nicht mehr neutral, jedenfalls nicht “für den gesamten Bereich der Gemeinsamen Außern- und Sicherheitspolitik” (der EU), “zu der die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik zählt”, mit anderen Worten für den größten Teil unseres außenpolitischen Aktionsfeldes8.

Es gelte in der EU vielmehr Solidarität9, eine Art (auch militärischer) Beistandspflicht, die Vorrang vor Neutralität habe. Diese Interpretation des Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags von Lissabon teilen meines Wisens nicht alle ExpertInnen. Mit Verweis auf die “Irische Klausel” reklamieren andere nämlich einen den Neutralen offenen Spielraum. Auch Cede bestätigt, dass Österreich nicht einmal den EU-Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine hätte zustimmen müssen, womit wohl die Sanktionen-Pakete gemeint sind10.

Schließlich aber stellt sich die Frage, wozu Österreich eine Politik aufgeben sollte, die es laut Cede gar nicht betreibt (womit er leider recht hat, teilweise), und warum es der NATO beitreten sollte, wenn doch bereits die EU zu “Solidarität” im Angriffsfall verpflichtet, also auch zum Beistand der übrigen EU-Mitglieder für den Fall, das Österreich Opfer eines Angriffs wird? Wozu dann noch der NATO beitreten? Denn, das einzig logische Motiv für das angestrebte Begräbnis der Neutralität könnte der (von einer politisch-medialer Führungsschicht) gewünschte Beitritt zur NATO sein, den selbst die “Rest-Neutralität” ausschließt. Man müsse/möchte mit anderen Entscheidungsträgern am Tisch sitzen, um “mitreden” zu können, hieß und heißt es zur Rechtfertigung eines NATO-Beitritts. Aber es sollte doch klar sein, dass man in Gegenwart des Hegemon und seiner Scherpas (z.B. in der NATO) zwar “mitreden”, aber nichts zu reden hat. Scherpa zu sein verkörpert gewiss keine nennenswerte Bewegungsfreiheit. Dass nun, wie Cede fordert, eventuelle österreichische Initiativen zur Förderung friedlicher Beilegung internationaler Konflikte im Rahmen der GASP “abzusprechen”seien, ist ein weiteres Indix für eine solche Einschränkung der Manövrierfähigkeit. Warum sollte das erstrebenswert sein, im Bandwagon mitzufahren?

Jede/r, der “Brüssel” kennt, gibt in stillen Stunden der Ehrlichkeit zu, dass die EU in Wahrheit keine europäisch-eigenständige Außen-, Sicherheits- und vor allem Verteidigungspolitik betreibt, sondern eine von der NATO (schon dank ihres numerischen und rüstungstechnischen Übergewichts) bestimmte, also von den USA11. Ob das, bei allen Gemeinsamkeiten bei “Werten”, im Interesse der Europäer ist, bleibe dahingestellt und zu diskutieren. Im Übrigen ist auch NATO-Mitgliedern militärischer Beistand nicht automatisch garantiert12 und wurden in der Geschichte nicht nur Neutrale, sondern auch Allieerte überfallen. Schon die geographische Lage lässt es überdies unwahrscheinlich scheinen, dass Russland (wie offenbar angenommen) Österreich überfallen würde, liegen doch die NATO-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn zwischen uns.

Last not least: Wie vernünftig ist es, die Neutralität ausgerechnet dann vor aller Augen in Frage zu stellen und/oder zu begraben, wenn die Hütte brennt? Hat etwa die Schweiz die ihre aufgegeben, als ein viel brutalerer und verbrecherischer Krieg ringsum tobte, ausgelöst von einem viel bedrohlicheren unmittelbaren Nachbarn?

Was du ererbt von deinen Vätern
Erwirb es, um es zu besitzen
- Johann Wolfgang von Goethe

Die Immerwährende Neutralität haben wir sozusagen geerbt (wie die Schweizer die ihre vor mehr als 200 Jahren), vielleicht ein Kuriosum, vielleicht unverdient, irrtümlich, vergänglich. Aber: Was können wir jetzt und in Hinkunft damit anfangen, außer es wegzuwerfen? War es nicht da und dort nützlich? Neutralität sollte als ebenso großer zivilisatorischer Fortschritt gelten und entwickelt werden wie Integration. Könnte sie wieder/weiter nützlich sein? Wenn ja, wie können wir sie (wieder) glaubwürdig machen? Selbst als Skellett könnte man sie mit den modernen Techniken, diesfalls der politischen Aktion, wiederbeleben...13

Heile, heile Mäusespeck
in hundert Jahr sind alle weg

Last not least: Neubesinnung tut in der Tat not: die “westliche Staatengemeinschaft”, auch “Wertegemeinschaft” genannt, mit ihrer “regelbasierten internationalen Ordnung” dürfte ein “Auslaufmodell” sein! Schon geraume Zeit ist eine kontinuierliche Erosion des Einflusses, der Hegemonie, dieser Staatengruppe zu beobachten. Zwar dominiert sie immer noch haushoch in puncto Militärbudgets, - exporte und -stützpunkte, aber in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Ideologie emanzipieren sich neben den Üblichen Verdächtigen, wie Russland&Co, China, immer mehr Länder des “Globalen Süden” und bilden neue Gruppierungen und Institutionen, die teils schon jene der genannten Gemeinschaft ersetzen und verdrängen. Die Frustration und das Unverständnis über westliche Politik steigen, nur ca. 40 der insgesamt 193 Mitgliedsstaaten der UNO machen bei der beispiellosen Sanktionspolitik gegen Russland (und viele andere) mit. Versuche, Gespräche und Verhandlungen zu fördern, die eventuell zu Waffenstillstand und Frieden in der Ukraine führen, gehen leider nicht von dem im EU-Boot sitzenden Österreich aus, sondern von blockfreien Ländern aus dem Globalen Süden.


  1. “Auslaufmodell Neutralität?”, Wiener Zeitung vom 24. Mai 2023 

  2. In den 31 Mitgliedsstaaten der US-geführtn NATO leben 12% der Weltbevölkerung, 56% der globalen Militärausgaben erfolgen durch diese Länder; die USA unterhält weltweit rund 750 militärische Stützpunkte, mit 170.000 Soldaten (China einen, Russland 9, 6 davon in Ländern der ehemaligen Sowjetunion) 

  3. “Maidan”, i.e. vom Westen unterstützter Umsturz, in Kiew, darauf folgende Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland; 

  4. Schlacht bei Belgrad gegen die Osmanen, 1717, unter Prinz Eugen von Savoyen 

  5. Franz Cede enthält sich übrigens jedweder Diffamierungen Andersdenkender. 

  6. Dem “Durchschnittsbürger” (und dem Ausland) war sogar versprochen worden, Österreich bleibe trotz EG-Beitritts selbstverständlich neutral und werde seine aus diesem Status gewonnenen Beziehungen und Erfahrungen in die EG nutzbringend einbringen... 

  7. Dass die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU nun unter dem an Orwell’sches Neusprech gemahnenden Titel “Friedensfazilität” Waffen zwecks Kriegsführung organisiert/finanziert, lässt starke Zweifel aufkommen. 

  8. Leider hat österreische Außenpolitik ihr früheres Engagement außerhalb Europas spätestens mit Außenminister Mock drastisch reduziert. 

  9. Dass das Prinzip “Solidarität” bereits in den Genen der EU-BürgerInnen (oder PolitikerInnen) als “Identität” stiftend angekommen ist, darf man wohl bezweifeln. 

  10. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der US-Außenminister Blinken ebenso wie das russische Außenministerium bezweifelt, dass Österreich noch neutral sei. 

  11. Dass auch Cede wiederholt USA, NATO und EU in einem Atemzug nennt, ist bezeichnend für die realen Machtverhältnisse. 

  12. Gemäß Artikel 5 sollen die Mitgliedstaaten im Beistandsfall jeweils selbst entscheiden, wie sie dem Angegriffenen helfen möchten/können. 

  13. Im Übrigen ist der Verweis auf die Positonierung Schwedens und Finnlands als Reaktion auf den illegalen Feldzug Russlands irreführend und irrelevant, beide waren nie völker- und staatsrechtlich immerwährend neutral, wie Österreich (und die Schweiz, und neuerdings Turkmenistan?). 

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