Engagierte Neutralität bietet Sicherheit

Die Behauptung, die seit Jahrzehnten bewährte Neutralität Österreichs hätte in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur keinen Platz, greift eindeutig zu kurz. Sie fußt auf einem Sicherheitsbegriff, der die militärische Abschreckung als alleiniges Merkmal der Sicherheit sieht. Dauerhafte Sicherheit beruht jedoch auf einem umfassenden Ansatz, der den Ausgleich von Interessen, vertrauensbildende Maßnahmen und den Willen zur friedlichen Lösung von Konflikten einbezieht.

Die Neutralität biete keinen Schutz, sie hätte in einer europäischen Sicherheitsarchitektur wenig Platz und im Ausland werde sie ohnedies zunehmend kritisch gesehen. Diese Haltung übernimmt, ohne wenn und aber, die zur Zeit in Europa vorherrschende Meinung, dass Sicherheit nur durch militärische Abschreckung zu erreichen ist. Wer so argumentiert, hält wenig von Friedensdiplomatie und den guten Diensten, die neutrale Staaten zur Aufrechterhaltung des internationalen Friedens bieten können. Die östereichische Neutralität ist nicht mit dem militärischen Maßstab allein zu messen.

Österreich hat seine aus freien Stücken beschlossene immerwährende Neutralität von Beginn an mit den Idealen der Vereinten Nationen verbunden. Bereits drei Wochen nach dem Beschluss des Neutralitätsgesetzes ist Österreich am 14.12.1955 den Vereinten Nationen beigetreten. Dieser Schritt hat seither die Sicherheits- und Neutralitätspolitik Österreichs maßgeblich geprägt. Sie ist den Idealen der Vereinten Nationen verpflichtet, nämlich künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren. Sie fußt auf den drei Dimensionen der Sicherheit, den drei D. Demokratie, Diplomatie und Defension ergeben in Summe das Potential der Widerstands- und Überlebensfähigkeit eines Staates.

Neutralität muss wehrhaft sein

Jeder Staat muss sich zuerst selber schützen. Die Neutralität vermindert jedoch das Risiko in einen Krieg hineingezogen zu werden. Das Schicksal des neutralen Belgien im Ersten Weltkrieg wird als Beweis herangezogen, dass dies nicht stimme. Dieses Beispiel überzeugt nicht, denn hätte sich Belgien militärisch an Frankreich oder Deutschland gebunden, wäre es von vornherein Kriegspartei gewesen. Ein viel aussagekräftigeres Beispiel für den Nutzen der Neutralität ist die Schweiz. Sie blickt auf 200 Jahre Frieden zurück und sie konnte sich aus zwei Weltkriegen heraushalten. Ihre Stärke liegt darin, dass sie in allen drei Dimension der Sicherheit im Spitzenfeld liegt.

Österreich hat ebenfalls gute Bedingungen, seine Sicherheit selbstbestimmt zu gewährleisten. Die geostrategische Lage, die innere Stabilität und die internationale Vernetzung können sich mit der Schweiz durchaus vergleichen. Die große Schwäche ist die militärische Landesverteidigung, die in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachläßigt wurde. Die Lösung liegt nicht im Beitritt zur NATO, sondern in der Wiederbelebung der umfassenden Landesverteidigung und der militärischen Raumverteidigung, die auf einer starken Miliz beruht. Ein Beitritt zur NATO brächte keinen Sicherheitsgewinn. Im Gegenteil, Österreich wäre in jedem Konflikt, in dem die NATO eingreift, automatisch Kriegspartei. Das könnte sogar bei Konflikten außerhalb Europas der Fall sein, da sich die NATO in Übereinstimmung mit der US-Sicherheitsstrategie darauf vorbereitet weltweit zu agieren.

Die Zielsetzung der militärischen Komponente der Landesverteidigung ist für einen neutralen Staat klar definiert. Er darf keine Zone der Unsicherheit sein und er muss sicherstellen, dass sein Territorium zu Erde und in der Luft im Kriegsfall nicht zum Vorteil einer Kriegspartei genutzt werden kann. Wenn Österreich das sicherstellt, leistet es seinen Beitrag für die Sicherheit Europas und es kann niemand behaupten, dass die NATO- Länder stillschweigend auch Österreich verteidigen würden. Mit dem Aufbauplan 2032 des Bundesheeres wurde ein erster Schritt bereits gesetzt.

Ein Problem für einen Kleinstaat ist die Luftverteidigung, die in der modernen Kriegführung die größte Bedrohung darstellt. Österreich hat im Zuge des Aufbauplanes 2032 mit dem Ankauf eines Flugabwehrraketen Systems den entscheidenden Schritt gesetzt. Damit ist Österreich in der Lage seinen Luftraum gegen nicht genehmigte Überflüge zu verteidigen.

Mit der Beteiligung am Sky Shield, der im Rahmen der NATO aufgebaut werden soll, begibt sich Österreich jedoch in eine neutralitätspolitisch schwierige Situation. Die Bundesregierung versichert zwar, es handle sich um eine reine Einkaufsgemeinschaft und es gäbe neutralitätsrechtliche Vorbehalte im Falle des Einsatzes. Die Frage ist allerdings, ob Österreich seine Luftverteidigung nicht auch eigenständig lösen könnte. Ist für die Abwehr von Drohnen, taktischen Marschflugkörpern und Überflügen Sky Shield unbedingt notwendig? Wo endet die Souveränität Österreichs im Luftraum? Muss Österreich in die strategische Raketenabwehr Europas eingebunden werden, obwohl es als neutraler Staat kein Angriffsziel wäre. Kann Sky Shield gegen Raketen überhaupt ausreichend Schutz bieten oder ist er nur der Beginn eines neuen Wettrüstens? Viele Fragen die noch offen sind und die den Jubel über die Beteiligung am Sky Shield doch verfrüht erscheinen lassen.

Die Neutralität in der EU

Die Beschwörung der Zeitenwende und die allgegenwärtige Kriegsrethorik hat die Einstellung der Bevölkerung zur Neutralität kaum verändert. Nach wie vor sind beinahe 80% der österreichischen Bevölkerung der Meinung, dass die Neutralität für Österreich sehr wichtig ist. Bereits 51% glauben aber, dass die Neutralität durch die Politik der Bundesregierung ausgehöhlt wird. Gilt also die Neutralität in der EU nicht mehr und kann die Bundesregierung gar nicht anders handeln?

Als Österreich der EU beigetreten ist, hat der damalige Außenminister Alois Mock folgende Erklärung abgegeben: „Die Neutralität Österreichs ist sein spezifischer Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa“. Warum sollte heute nicht gelten, was damals erklärt wurde?

Der Artikel 3 des EU-Vertrags bestimmt: „Das Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. Dieses Ziel ist mit der Neutralität Österreichs vollkommen vereinbar. Auch die Beistandspflicht nach Artikel 42/7 steht der Neutralität nicht im Wege, weil die sogenannte „irische Klausel“ den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt lässt. Österreich ist daher nicht verpflichtet, militärische Hilfe zu leisten, sondern kann seine Beistandsverpflichtung in anderer Form erfüllen. Selbst die Änderung der Bundesverfassung durch die Einfügung des Art 23j, der die Mitwirkung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) regelt, sieht keine Verpflichtung zur Teilnahme an militärischen Einsätzen vor. Die Entsendung von Truppen in das Ausland bedarf nach wie vor der Zustimmung des Hauptausschusses des Nationalrates, die ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates wohl kaum erfolgen wird.

Der Kernbestand der Neutralität ist also für die österreichische Politik in der EU kein Hindernis. Solange die GASP die Grundsätze der Vereinten Nationen achtet, kann Österreich allen Beschlüssen der EU zustimmen. Die Neutralität Österreichs kann für die GASP sogar nützlich sein. Sie hilft einseitige Beurteilungen von Sachverhalten zu vermeiden und dient der Formulierung einer ausgewogenen Politik. Nach dem Ukraine Sondergipfel in Paris hat Bundeskanzler Nehammer mit seinem Vorschlag eine Verhandlungslösung mit Russland anzustreben und sich dafür einzusetzen, dass das Sterben ein Ende hat, wieder an die bewährte Neutralitätspolitik Österreichs angeknüpft. Sein Vorschlag mit den Ländern des Globalen Südens Kontakt aufzunehmen ist ein Musterbeispiel engagierter Neutralitätspolitik.

Die Zukunft der EU

Die EU steht vor einer neuen Phase ihrer Entwicklung. Der Krieg in der Ukraine, ein möglicher Rückzug der USA aus Europa mit Hinwendung zum pazifischen Raum und das neue Selbstbewusstsein des Globalen Südens sind die Vorboten einer neuen Weltordnung. Neben Russland steht China als Herausforderer bereits bereit und beginnt, seine Einflusssphäre mit der „Neuen Seidenstraße“ zu erweitern. Indien und Brasilien vertreten eigenständige Positionen. Die Länder des afrikanischen Kontinents sind dabei, ihre Unabhängigkeit zu entdecken. Das Friedensprojekt EU verliert seine ursprüngliche Zielsetzung aus den Augen und will kriegstüchtig werden, um militärische Machtpolitik ausüben zu können. Die Vision einer Friedenszone von San Francisco bis Wladiwostok ist der täglichen Kriegsrhetorik gewichen.

Krisen sind Zeiten der Verunsicherung und schmerzhafter Veränderung, sie schaffen aber auch Chancen für neue Strukturen. In einer neu entstehenden multipolaren Weltordnung wird sich auch die Zukunft der EU entscheiden. Sie kann entweder zum Gründungsgedanken einer eigenständigen Friedens-und Handelsmacht zurückkehren oder weiterhin als schutzbedürftiger Staatenbund den Interessen einer außereuropäischen Schutzmacht dienen. Eine eigenständige EU würde sich militärisch auf die Selbstverteidigung beschränken und im Einklang mit der UN-Charta auf militärische Machtpolitik verzichten. Sie hätte mit den USA eine strategische Partnerschaft auf der Grundlage der gemeinsamen Werte, ohne die eigenen Interessen aus den Augen zu verlieren. Ihre Chance läge in der Äquidistanz zwischen den künftigen Machtpolen und der Umsetzung der vergessenen Lissabon Strategie. Danach sollte die EU bereits 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Das neutrale Österreich wäre in einer solchen EU ein nützliches Mitglied.

Eine selbstständige EU ist nur möglich. wenn es gelingt den ewigen Feind Russland in eine europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden. Während im Westen Europas nach zwei Weltkriegen die Staaten durch den Zusammenschluss in der EU ihren Frieden gefunden haben, ist das mit Russland noch nicht gelungen. Ohne einen Frieden mit Russland ist aber kein dauerhafter Friede in Europa möglich. Diese Erkenntnis hat der ehemalige Generalsekretär der NATO Javier Solana 1999 beim NATO Workshop in Wien folgend formuliert: „Eine umfassende euro-atlantische Sicherheitsarchitektur kann nicht ohne Russland oder gar gegen Russland gebildet werden“. Diese geopolitische Konstante hat die Ukraine zu Beginn ihrer Unabhängigkeit bewogen, sich für neutral zu erklären. Wie sich gezeigt hat, sind Erklärungen oft von kurzem Bestand. Eine dauerhafte Friedensordnung sollte daher nicht auf Erklärungen beruhen, sondern sollte in Friedensverträgen verankert sein. Das einzige Werkzeug, Verträge auszuarbeiten, ist der Dialog aller Betroffenen auf gleicher Augenhöhe.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Sitz in Wien wäre der geeignete Ort die Vision einer Friedenszone von San Francisco bis Wladiwostok wieder aufleben zu lassen. Eine Weltfriedenskonferenz am Sitz der OSZE unter Einbeziehung Chinas könnte dafür die Weichen stellen. Wer könnte diese Idee nicht besser ins Spiel bringen als ein neutraler Staat? Behalten wir unsere Neutralität und Nutzen wir sie im Dienste des Friedens. Sie wird in turbulenten Zeiten am dringendsten gebraucht.

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