Soll das Friedensprojekt Europa kriegstauglich werden?
Es vergeht kaum ein Tag an dem die Öffentlichkeit in den Massenmedien nicht vor einem russischen Angriffskrieg gewarnt wird. Europa muss kriegstauglich werden ist die Botschaft, die wir täglich hören. Das Bundesheer hat vor kurzem das Risikobild 2024 präsentiert. Als wahrscheinlichste Bedrohung wird die hybride Kriegführung gesehen, die größtenteils nicht militärischer Natur ist. Eine glaubwürdige Neutralitätspolitik verringert das Risiko, Ziel hybrider Angriffe zu werden. Das neutrale Österreich kann sich im Rahmen der EU an zivilen Schutzmaßnahmen solidarisch beteiligen. Mit seiner Neutralität kann es aber auch als Stimme des Friedens für die europäische Sicherheit wertvolle Dienste leisten.
Je länger der Krieg in der Ukraine dauert und je gewisser es wird, dass er nicht zu gewinnen ist, desto martialischer wird die Sprache der europäischen Politiker. Jeder scheint die Absichten Putins genau zu kennen, obwohl keiner mit ihm redet. Sogar im neutralen Österreich häufen sich die Schlagzeilen „Österreich muss kriegstauglich werden“. In der kürzlich abgehaltenen Europastunde im Nationalrat forderte Reinhold Lopatka, Spitzenkandidat der ÖVP für die EU-Wahl, die Weiterentwicklung des „Friedensprojekt Europa“ zu einer Sicherheitsunion. Er übersieht dabei, dass die EU ihre Sicherheit längst in die Hände der NATO gelegt hat. Die europäische Sicherheitsunion ist die „NATO neu“, die sich in Übereinstimmung mit der amerikanischen Sicherheitsstrategie darauf vorbereitet, weltweit auf sämtliche Bedrohungen der von ihr erklärten „regelbasierten Weltordnung“ zu reagieren.
Vom Frieden redet in Europa von den verantwortlichen Politikern kaum jemand mehr. Vor kurzem hat das Bundesheer das Risikobild 2024 unter dem Titel „Welt aus den Fugen“ präsentiert. Daraus ergeben sich drei Fragen. Warum ist die Welt aus den Fugen? Welche wahrscheinlichen Bedrohungen ergeben sich für Europa? Welche Folgerungen können wir für unsere Neutralität ziehen?
Warum ist die Welt aus den Fugen?
Es gibt natürlich viele Ursachen, warum die Welt, - gemeint ist wohl die nach dem Ende des Kalten Krieges westlich bestimmte „regelbasierte Weltordnung“- aus den Fugen geraten ist. Für die europäische Sicherheit war zum Beispiel das Jahr 2008, als die NATO die Ukraine und Georgien zum Beitritt einlud, ein Wendepunkt. Russland sah dadurch seine Sicherheit bedroht, während die NATO auf das Recht jedes Staates pochte, seine Sicherheitsvereinbarungen selbst zu bestimmen und durch den Beitritt beider Staaten keine Gefährdung der russischen Sicherheit sah. Spätestens von da an nahm die Entfremdung zwischen Russland und der NATO ihren unaufhaltbaren Lauf. Die divergierenden Interessen zwischen den USA und Russland lähmten den UNSicherheitsrat und verhinderten die Fortführung der kooperativen Sicherheitspolitik in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Europa konnte nur machtlos zusehen, wie sich die von Merkel und Hollande verhandelten Minsker Abkommen in wertloses Papier verwandelten. Schließlich brachte der Krieg in der Ukraine den Kalten Krieg zurück und beschleunigte das Wettrüsten. Die kollektive Sicherheit der Vereinten Nationen und die kooperative Sicherheit der OSZE wurden ihrer Aufgabe als Friedensstifter beraubt.
Die Vereinten Nationen wurden mit dem Ziel gegründet künftige Generationen vor der Geissel des Krieges zu bewahren. Alle Staaten der Welt sind heute Mitglieder der Vereinten Nationen und haben sich diesem Ziel verschrieben. Die Vereinten Nationen können aber nur funktionieren, wenn die Vetomächte des Sicherheitsrates willens sind ihre Interessen auszugleichen und der Erhaltung des Weltfriedens unterzuordnen.
Auch das Funktionieren der OSZE hängt vom Willen der beteiligten Mächte ab, die in der Europäischen Sicherheitscharta von 1999 festgeschriebenen Grundsätze ernst zu nehmen. Die Charta geht von der Unteilbarkeit der Sicherheit in Europa aus. Das bedeutet, dass kein europäischer Staat seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen soll.
In beiden Organisationen ist demnach der Ausgleich der Sicherheitsinteressen aller beteiligten Staaten der Schlüssel für eine friedliche Welt. Nach welchen Regel dieser Ausgleich erfolgen soll ist in beiden Organisationen ausreichend beschrieben. Eine „regelbasierte Weltordnung“ die darüber hinaus geht oder diese Regeln umgeht, führt unweigerlich zu Mißtrauen und Konflikten. Wieviele Opfer müssen gebracht werden um die beiden Organisationen wieder zu beleben? Wie lange wird es dauern bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Sicherheit und Frieden nur gemeinsam erreicht werden kann?
Welche wahrscheinlichen Bedrohungen ergeben sich für Europa?
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hat eine Studie vorgelegt, wonach Europa nur mehr kurze Zeitfenster verbleiben um so aufzurüsten, dass einem Angriff Russlands erfolgreich begegnet werden kann. Ein Sieg Russlands in der Ukraine würde Russland in die Lage versetzen weiter nach Westen vorzustossen. Daher dürfe die Ukraine den Krieg nicht verlieren. Dazu brauche sie die bedingungslose Unterstützung des Westens. Die verbleibende Zeit müsse genutzt werden um die EU kriegstauglich zu machen.
Das Risikobild 2024 des Bundesheeres geht davon aus, dass sich die Weltordnung in einem Prozess der Umstrukturierung befinde. Der Krieg als Mittel der Politik sei zurück. Das Kriegsbild habe sich jedoch verändert. Statt eines konventionellen Krieges sei eher mit einer hybriden Kriegführung zu rechnen. Darunter versteht man die Destabilisierung der Gesellschaft, die Verbreitung von Falschnachrichten, die Manipulation der öffentlichen Meinung, die Erpressung auf Grund einseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit, sowie Sabotage und Terroranschläge. Die hybride Kriegführung werde oft verdeckt durchgeführt, sodass der Gegner nicht einfach zu erkennen sei.
Dazu ist zu sagen: Hybride Kriegführung erfordert größtenteils zivile Gegenmaßnahmen. Die Stärkung der zivilen Widerstandsfähigkeit wird so zur Kernaufgabe der EU. Das neutrale Österreich kann an dieser Kernaufgabe ohne Vorbehalte mitwirken. Die Kriegsrhetorik ist daher fehl am Platz und schürt nur die Ängste der Bevölkerung. Besser wäre es den Gründungsgedanken der EU wieder als Leitlinie der Politik ins Auge zu fassen, nämlich das über Jahrhunderte in Schlachten und Kriegen geschundene Europa in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln.
Welche Folgerungen können wir für unsere Neutralität ziehen?
Das Risikobild 2024 lässt auch eine andere Schlussfolgerung zu. Die Gefahr, zum Ziel hybrider Angriffe zu werden, steigt, wenn Österreich von anderen Staaten als unfreundlich oder als Unterstützer einer Kriegspartei wahrgenommen wird. Die Initiative Engagierte Neutralität hat in ihrem Appell an die Bundesregierung und an das Parlament bereits darauf hingewiesen, dass eine engagierte Neutralitätspolitik das Risiko, in einen Krieg hineingezogen zu werden, erheblich vermindert. Neutrale Staaten erfüllen eine wichtige Funktion als Orte der Begegnung. Österreich und die Schweiz sind nicht zufällig Amtssitz der Vereinten Nationen. Österreich ist auch Sitzstaat der OSZE und an die 50 internationale Organisationen sind in Wien ansässig.
Die Neutralität ist nicht, wie manche behaupten, aus der Zeit gefallen sondern für Österreichs Sicherheit wichtiger denn je. Sie ist kein Freibrief für das Nichtstun. Im Gegenteil, sie muss ihre Glaubwürdigkeit im Frieden und im Krieg unter Beweis stellen. Es ist die Aufgabe der Neutralitätspolitik, ihren Kernbestand jederzeit mutig zu vertreten sowie ihre positiven Eigenschaften politisch klug für den internationalen Frieden und die eigene Sicherheit zu nutzen. Die Neutralität entspricht in jeder Beziehung den Idealen der Vereinten Nationen und sie ist somit die höchste Stufe der Zivilisation. Es wäre unklug, diese Errungenschaft aufzugeben.
Die Sicherheit Österreichs ruht auf den drei Säulen: Demokratie, Diplomatie und Defension. Diese drei D unterstützen sich gegenseitig und sind gleichermaßen wichtig. Eine stabile Demokratie bewahrt unsere Grund-und Freiheitsrechte, eine engagierte Diplomatie ist auf eine aktive Friedenspolitik ausgerichtet und eine glaubwürdige Verteidigung stärkt unsere Widerstandskraft durch die Wiederbelebung der Umfassenden Landesverteidigung in allen ihren Dimensionen - geistig, zivil, wirtschaftlich und militärisch.
Es ist nicht ersichtlich welchen Sicherheitsgewinn ein Beitritt zur NATO bringen soll. Der Beitritt Finnlands und Schwedens ist für Österreich kein Maßstab. Österreich ist im Gegensatz zu diesen beiden Ländern rechtlich immerwährend neutral und in einer geopolitisch anderen Lage. Würde Österreich der NATO beitreten wäre es sofort ein legitimes Ziel der hybriden Kriegsführung. Im Falle eines Kriegs sind Angriffe mit Drohnen und Raketen zu erwarten. Ein Beitritt zur NATO würde die geopolitisch günstige Lage Österreichs gravierend verschlechtern.
Finnland wurde zum Beispiel vom neutralen Pufferstaat zum Frontstaat. Es hat alle Grenzübergänge zu Russland geschlossen, errichtet einen 4 m hohen und 250 km langen Grenzzaun und stellt seine militärische Infrastruktur in einem Defence Cooperation Agreement (DCA) den USA zur Verfügung. Auch Schweden hat ein DCA abgeschlossen, das die Nutzung der militärischen Infrastruktur Schwedens durch die USA erlaubt. Als Schweden im ersten Kalten Krieg neutral war hat es stolz verkündet: nur Schweden verteidigen Schweden. Ist Russland soviel gefährlicher als es die kommunistische Sowjetunion war? Käme Österreich bei einem NATO-Beitritt nicht auch unter Druck ein DCA mit den USA abzuschließen?
Die Neutralität in der EU ist kein Hindernis
Als Österreich dem Friedensprojekt EU (damals noch Europäische Gemeinschaften) beigetreten ist, hat Außenminister MOCK folgende Erklärung abgegeben: Die Neutralität Österreichs ist sein spezifischer Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa - ein Beitrag, der seine Entsprechung in der Präambel des EWGVertrages findet und die lautet: „Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen“.
Neutralität ist für das Friedensprojekt EU, für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) kein Hindernis. Der Artikel 3 des EU-Vertrags lautet: „Das Ziel der Union ist es den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. Das neutrale Österreich kann alle Maßnahmen, die dem Ziel der EU dienen solidarisch mittragen. Lediglich die Anwendung oder Androhung von Gewalt oder die Verhängung von Sanktionen zur Durchsetzung machtpolitischer Interessen bedürfen aus neutralitätsrechtlichen Gründen eines Mandats des UN-Sicherheitsrates. Der EU-Vertrag verweist mehrmals auf die Achtung der Grundsätze der Vereinten Nationen, wodurch sich für Österreich diesbezüglich keine Hindernisse ergeben sollten.
Anstatt in den Chor der Kriegsrhetoriker einzustimmen sollte Österreich seine Stimme inner- und außerhalb der EU für Frieden erheben und das Mock’sche Versprechen in die Tat umsetzen.
Die Tatsache, dass die UN auf Grund des Zerwürfnisses der Vetomächte zur Zeit nicht ausreichend funktioniert ist kein Grund ihre Grundsätze, Regeln und Ideale über Bord zu werfen. Es gibt keine besseren. Die Welt, die aus den Fugen geraten ist, muss den Weg zurück zu einer Weltordnung finden in der die friedliche Lösung von Konflikten die Richtschur ist. Die EU kann dabei eine wichtige Rolle spielen, wenn sie zu ihrem Gründungsgedanken zurück kehrt, nämlich eine eigenständige selbstbestimmte Friedens- und Handelsmacht zu sein. Die Wiederbelebung der OSZE, dieser innovativen Organisation der kooperativen Sicherheit, ist ebenfalls unverzichtbar. Das neutrale Österreich könnte als Gastgeberland dabei eine wichtige Rolle spielen. Die allgegenwärtige Kriegsrhetorik hat die Fronten bereits so verhärtet, dass der verlorengegangene Frieden erst wieder möglich sein wird, wenn die Völker erkennen, welchen Scherbenhaufen Kriege hinterlassen. Die Weisheit des ersten Präsidenten der USA, George Washington, sollte uns allen Mahnung sein: „Mein letzter Wunsch ist, den Krieg, dieses Brandmal am Körper der Menschheit, von der Erde verschwinden zu sehen“.